Wenn Auen ihren Lämmern antworten, ertönt ein tiefes, sanftes Brummen. Ein beruhigender, fast leiser Laut, der sagen will: Ich bin hier, alles ist gut.
Wenn Schafe unzufrieden sind, etwa weil sie auf eine neue Weide wollen, Wasser oder sonst etwas brauchen, erklingt ein lautes und penetrantes Blöken: hier stimmt was nicht, ändere das! Es ist ganz und gar unmöglich, diesen Klageruf auf Dauer zu ignorieren. Bisher kannten wir ihn nur als vielstimmiges Konzert, weil der ganzen Herde irgendetwas nicht gepasst hat. Scarface, eines unserer Mutterschafe, hat unserer Wandlung von Stadtmenschen zu Bauersleuten diesbezüglich unlängst ein Kapitel hinzugefügt.
Zunächst einmal hat sie auf der Weide Zwillinge zur Welt gebracht. Alles soweit gut, eine erfahrene Aue, große Euter, ausgeprägter Mutterinstinkt. So wie meistens, wenn die Tiere im Freien lammen, haben wir das Ganze erst mitbekommen, als die lieben Kleinen schon da waren: noch ein wenig feucht, aber schon auf den wackeligen Beinen.
Am nächsten Tag aber blökt sie eine unüberhörbare, unablässige Beschwerde, irgendetwas will sie uns mitteilen. Sie kann ja nicht wissen, dass ich mich gerade zehn Minuten hinlegen wollte. Ich stehe also auf und sehe nach dem Rechten. Sie ist allein neben dem Unterstand, der Rest der Herde ist weit weg, am untersten Ende der Weide. Um sie herum: ein Lamm. Ja genau, eines. Eine etwa zweistündige Suchaktion beginnt, ich und die Altbäuerin sowie der Altbauer, die gerade bei uns weilen, lassen nichts aus. Die Wiese ist hoch genug, um ein so junges Lamm zu verbergen, wir durchkämmen also jeden Quadratmeter und schauen in alle Schlupfwinkel im Unterstand. Nichts, weder tot noch lebendig. Scarface hat sich derweil mitsamt Lamm wieder zum Rest gesellt, selbst das tapferste Mutterschaf hält es nicht auf Dauer ohne seine Herde aus. Wie die anderen rupft sie Kräuter und Gräser, vergisst aber nicht, immer wieder zu blöken. Als ob wir nicht schon unser Möglichstes tun würden! Dabei blickt sie immer in dieselbe Richtung, hinauf zum Unterstand. So, als müsste ihr Kleiner jeden Augenblick angepurzelt kommen.
Nach unzähligen Malen den Hügel rauf und wieder runter geben wir auf, und ich hoffe, sie wird bald dasselbe tun. Dann kommt der Bauer nach Hause, ich muss ihm nicht erst mitteilen, was los ist, er hört es. Anders als ich hat Scarface nicht eingesehen, dass das zweite Lamm verschwunden ist, sondern ist zurückgekehrt zum Unterstand. Sie ruft weiter, mal leise brummend nach dem Lamm, mal laut blökend um Hilfe. Keine fünf Minuten später bin ich es, die gerufen wird. Vom Bauern, mit der Bitte, eine Taschenlampe mitzubringen… das Lamm hat geantwortet.
Unter der Futterraufe im Unterstand haben zwei verrutschte Ziegel ein kleines Schlupfloch frei gegeben, das direkt unter die benachbarte Scheune führt. Gutes Versteck für ein Nickerchen, muss der kleine Kerl sich gedacht haben. Während ich ihn gesucht habe, hat er also geschlafen, und als er aufgewacht ist und nicht mehr rausfand, hat er nach seiner Mama gerufen. Die ist prompt gekommen und hat Verstärkung geholt. Die Rettungsaktion haben wir in Bildern festgehalten, vom Versteck bis zur Familienzusammenführung. Held der Geschichte: der Bauer. Heldin der Geschichte: Scarface. Also starring: die Bäurin, die Altbauersleute, das Lamm.
Der einzige Zugang zum Versteck (für Menschen)
Auf dem Weg hinein…
… und wieder heraus
Das gerettete Lamm, mit Original-Rückständen aus dem Versteck
Scarface und ihre Lämmer wieder vereint (links das Gfrast)
4 Comments
Helden! Heldinnen! LebensretterInnen und geduldigste Suchmanschaft! Ein Thriller von einer Geschichte und dann Hollywood-reifes Happy End!
Haha Ich liebe die Geschichte ?
Danke für diese wunderbare Geschichte – ich hatte einen Kindergottesdienst zum Thema – verlorenes Schaf und wusste nicht, dass Schafe laut blöken, wenn etwas nicht stimmt.
Dieses tolle Erlebnis habe ich zur Vertiefung für die Erzählung genommen. Scarface ist eine wahre Heldenmama
Danke für dieses schöne Feedback! Ja, Schafe können ganz schön laut sein :o)